Sabine Alt

Auf den Spuren von Sabine Alt

Cala de Deiá (Mallorca)

Leicht verpasst man das einfache Holzschild, das am nördlichen Ortsausgang von Deiá den Weg zum Strand weist. Die engen Serpentinen, die in die kleine Bucht hinunterführen, erschweren den Zugang zusätzlich, auch die Parkplätze unten sind rar gesäht. Doch der Anblick der halbmondförmigen Bucht von etwa achtzig Meter Länge entschädigt für alle Mühen.

Gretas Verwandlung, S. 9f

Neben und hinter Greta gab es nichts als Klippen und Steine. Und vor ihr lag das weite, türkisblaue Meer. Eine feuchte Hitze nahm den Klippen alle Farben und hängte ihren dunstigen Mantel über die Felsen. In vollkommener Symmetrie rahmten sie das Meer. Am Horizont gingen Wasser und Himmel ineinander über, als seien sie Farbschleier auf einer ungrundierten Leinwand. Oben befand sich ein fast weißes Grau, das sich sinkend mit Blautönen mischte und auf Höhe des Horizonts ein smaragdenes Grün aufnahm, das am Grund körnig durchsetzt war mit türkisfarbenen Tupfen, die wie Kiesel oder wie Töne über das Wasser hüpften, auf- und abschwellend im Gleichklang mit dem Lachen der spanischen Kinder und den gurgelnden Rufen der jungen Männer, von denen die Bucht widerhallte. Ab und zu sprang blubbernd ein Motorboot an, nahm Fahrt auf und verließ die Bucht. Greta, deren Blick unter gesenkten Lidern hindurch auf das spiegelnde Wasser gerichtet war, verfolgte träge den Weg der Boote und ließ sich zu ausgedehnten Tagträumen animieren.
Es half ihr, den Hunger zu vergessen.

Ruhrtal

Zwischen Hattingen und Bochum-Stiepel liegt im Naturschutzgebiet als einziges Gebäude weit und breit die historische Schleuse Blankenstein, die 1777/78 vom preußischen Staat als Holzkonstruktion gebaut wurde. Man erreicht sie am schönsten zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf dem alten Leinpfad entlang der Ruhr. Die Schleuse ist seit Jahren stillgelegt und bietet einen morbiden Anblick, der gut zu der besinnlichen Stimmung am Fluss passt.

Kinder des Wassers, S. 10f

Der graue Fluss zerschneidet Wiesen voller Klee und Unkraut. Träge verzweigt sich der Fluss in überflüssig scheinende Arme, um sie an der nächsten Biegung wieder zusammenzuführen. Inmitten der Wasserläufe steht das alte Schleusenhaus, umgeben von Becken und Wegen aus Gussbeton. Früher schoss das Wasser in stündlichem Rhythmus in die Kammern, und ein fortwährendes Rauschen erfüllte die Luft bis weit hinauf zur anderen Talseite, wo Jacob aufgewachsen ist. Jetzt steht in den brüchig gewordenen Becken ein grünliches Brackwasser, auf dessen Oberfläche Algen und tote Insekten schwimmen. Und in dem alten Kamm vor dem ersten Staubecken, der früher dafür sorgte, dass kein Treibgut in die Schleusenanlage geriet, verfangen sich nur noch zufällig einzelne Gegenstände und verkommen zwischen den rostigen Zinken. Auch das eiserne Geländer der schmalen Holzbrücke, die über einen Seitenkanal zum Schleusenhaus führt, ist längst verrostet.

Rilke-Pfad (Duino, Italien)

Der Rilke-Pfad ist ein bezaubernder Höhenweg von 3,7 km Länge entlang der Steilküste nördlich von Triest. Während seines Aufenthaltes im Schloss von Duino ließ sich der Dichter Rainer Maria Rilke hier für seine Duineser Elegien inspirieren. Der Einstieg liegt etwas versteckt am Ortsrand von Duino. Aber die Suche lohnt sich.

Weras Talent, S. 116

Der Pfad führt direkt an der Steilküste entlang. Er schwebt zwischen Himmel, Sträuchern und Meer. Die Rücken der Felsen schwimmen auf dem Wasser, das vollkommen still ist, im Mittagslicht schweigt, wie die Tiere auch. Zwei Eidechsen sonnen sich auf einem glatten Stein, bis Schritte sie aufschrecken. Auf gezackten Wegen fliehen sie in ein dorniges Gebüsch. Carl-Josef Maurer nimmt den Arm von Weras Schultern, bückt sich und hebt ein Steinchen auf. Er holt aus und wirft den Kiesel in weitem Bogen übers Meer. Es scheint Wera, als schwebe der Stein sekundenlang zwischen Himmel und Wasser. Dann stürzt er ab und ist, bevor das Meer ihn schluckt, längst unsichtbar. Wera kann den Blick nicht abwenden.

Havelchaussee

Von der im Süden Berlins gelegenen Insel Schwanenwerder, die von herrschaftlichen Anwesen gesäumt ist, führt die verkehrsberuhigte Chaussee entlang der Havel und ihren baumbestandenen Sandstränden vorbei an dem roten Backsteinbau des Grunewaldturms. Die Havelchaussee endet an der Heerstaße, deren martialischer Name auf ihre frühere Funktion als Verbindungsweg zu den nordwestlich Berlins gelegenen Kasernen verweist.

Gegen das Licht, S. 113f

Am Strand wird hastig der Deckel des silbernen Koffers aufgeklappt. Die Kamera bleibt unangetastet in ihrem Futteral liegen, nur das größere der beiden Teleobjektive wird aus dem Schaumstoff gezogen und zu seiner vollen Länge ausgefahren. Es ist finster über der Havel, lange kann das Objektiv sein Ziel nicht finden. Doch plötzlich glänzt nasses Frauenhaar auf dunklem Wasser. Ein Paar Schultern und zwei Arme tauchen in schnellem Rhythmus auf, heben sich hell gegen die Dunkelheit ab, um gleich darauf wieder im Trüben zu verschwinden. Und dann – als überraschendes Geschenk der Natur an diese Nacht – schiebt sich ein praller Mond durch die Bäume am gegenüberliegenden Ufer, eine angefettete Sichel, die Silberstreifen übers Wasser wirft und die Nacht erhellt. Ein schneller Griff ins Futteral des Koffers, mit drei Umdrehungen ist das Objektiv auf der Kamera befestigt und nach wenigen Sekunden die Schwimmende auf dem Wasser wiedergefunden. Als sich die Linse schließt, klingt ihr Schnappen wie ein heimliches Stöhnen.